"Das kubanische Institut für Filmkunst und Filmindustrie, ICAIC,
wurde 1959 mit dem ersten Gesetz, das die Revoltion im Bereich der Kultur
erließ, gegründet. Der für die vorliegende Betrachtung gewählte Zeitraum
zwischen 1975 und 1991 entspricht der zweiten Hälfte der Existenz des ICAIC:
Diese Zeitspanne reicht vom Höhepunkt des Triumphalismus' der Sowjetunion
und ihrer Verbündeten - dessen Echo in Kuba der Eingriff in den Angola-Krieg
ist - bis zum Untergang des Sozialismus in Europa. In dieser Zeit produzierte
oder koproduzierte das ICAIC 91 lange Spielfilme, davon 62 von kubanischen
Regisseuren.
Mit der Organisation einer nationalen Filmindustrie ab 1959 gab es
in Kuba erstmals die Möglichkeit einer Filmbewegung, die ihre Originalität
aus den Eigenheiten des nationalen Kontexts gewann. Es ging ihr um die
Anerkennung und Untersuchung des »Kubanischen« nicht als appetitliches
Exotikum für den Blick von außen, sondern im Rahmen eines politischen Projekts,
das Zeugnisse seiner Authentizität einforderte, um sein Streben nach Emanzipation
und Souveränität zu legitimieren.
Die gesellschaftlichen Umstände, unter denen das ICAIC gegründet wurde,
fördern seine Einheit und Geschlossenheit. Der kubanische Film - das »Cine
Cubano«- wurde von Anfang an als eine Bewegung verstanden und mit einer
ernormen Kohäsionskraft geboren. Dieser in den Zeiten der größten revolutionären
Euphorie gewachsene Geist des Zusammenhalts existiert auch heute noch:
Er hat es möglich gemacht, daß sich 1991 alle Filmemacher des ICAIC geschlossen
dem Versuch der Ideologie-Abteilung der kommunistischen Parteiführung entgegenstellten,
das Institut aufzulösen - mit der offenkundigen Absicht, ein Zentrum alternativen
Denkens im Lande zu neutralisieren.
Immer wieder ist gesagt worden, daß die Gründer
des ICAIC - Alfredo Guevarra, Tomás Gutiérrez Alea und Julio García Espinosa , insbesondere ihr Dokumentarfilm EL MÉGANO - vom Einfluß des Neorealismus geprägt waren. Das stimmt. Doch der bestimmende Einfluß eines Filmemachers ist das Ergebnis seiner eigenen Vorzüge und seiner eigenen Auswahl. Diese bilden sich aus einer Mischung von ethischer und ästhetischer Prinzipien, die auch ohne jenen konkretten äußeren Einfluß auf Lösungen in einer solchen Richtung gedrängt hätten. Die Einstellung, die die Gründer des ICAIC mit dem Neorealismus verband, war die gleiche, die sie vor 1959 auf die eine oder andere Weise zur Zusammenarbeit mit der Rebellenbewegung und in Folge zur aktiven Teilnahme am revolutionären Prozeß geführt hatte.
Diese Haltung, dieser »revolutionäre Impuls«, war so tiefgreifend, daß er mit der »Participación militante« einen neuen Typus von aktivem
Engagement hervorbrachte. Sie war die Grundlage für die Einheit und relative
Stabilität des Filminstitus inmitten aller Art von politischen Stürmen
(und auch inmitten der von der Institutsleitung selbst mehr als einmal
begangener Fehler). Filme wie MEMORIAS
DEL SUBDESAROLLO (ERINNERUNGEN AN DIE UNTERWICKLUNG, 1968) von Tomás
Gutiérrez Alea , DE CIERTA MANERA (IN GEWISSER HINSICHT, 1974) von Sara Gómez und ALICIA EN EL PUEBLO DE MARAVILLAS (ALICIA IM DORF DER WUNDER, 1990) von Daniel Díaz Torres sind als ein Ergebnis eben dieser »Participación militante« zu verstehen.
Der Film ALICIA ... allerdings entstand in einem Kontext, in dem der »revolutionäre Impuls«, den früher die Politik für sich beansprucht hatte, nun in Widerspruch zu einer stillschweigend praktizierten »neuen« Politik der »revolutionären Trägheit« geriet. Eine Anekdote mag dies illustrieren: Auf einer Pressekonferenz während des 13. Festivals
des Neuen Lateinamerikanischen Films in Havanna im Dezember 1991 verteidigte Daniel Díaz Torres ALICIA ... , indem er auf dem revolutionären Charakter des Films bestand. Dabei unterstrich er offenkundig nicht den semantischen Gehalt des Wortes »revolutionär«, sondern seinen in Kuba gängigen Gebrauch in dem Sinne: »was der Revolution treu ist« (in der Praxis: »was der Kommunistischen Partei treu ist«, sprich: »was Fidel treu ist«) - und dies hat mehr mit Trägheit zu tun als mit einem Impuls. Doch der Grund, warum ALICIA EN EL EL PUEBLO DE MARAVILLAS revolutionär im eigentlichen Sinne des Wortes ist, liegt im Überleben - auch im heutigen Kontext - jener Haltung, die gleichermaßen den Volksaufstand von 1959 wie die Entwicklung des ICAIC möglich machte: eine kritische Haltung, progressiv, erneuernd, entmystifizieren, häretisch ... Die Konsequenzen, die die Wandlungen der Politik bei gleich bleibendem ideologischen Vorzeichen für die Kunst haben, erinnern an die traurigen Lektionen der Sowjetunion, wo - im Namen der »Treue zur Sache« - das gesellschaftliche Engagement von Filmschaffenden wie Sergej Eisenstein oder Dsiga Wertov schrittweise unterminiert wurde. Es sollte nie vergessen werden, daß nur derjenige einer Sache oder einer Person treu sein kann, der sich selbst treu bleibt.
Wenn er von seinem Interesse für den Film spricht erklärt der kubanische Filmemacher Tomás Gutiérrez Alea , oft, daß »diese Kunst in sich eine Art `realistischer Berufung' trägt«. In den sechziger und zu Beginn der siebziger Jahre verband die Bewegung des kubanischen Kinos diese »realistische Berufung« mit einem Ehrgeiz zur anthropologischen Untersuchung, insbesondere im Bereich des Dokumentarfilms.
Die Grenzen zwischen Dokumentar- und Spielfilme verschwammen. Es ist nicht schwer, auf »Dokumentarfilme« zu stoßen, die dramatisch ausgestattet sind, wie etwa ESCENAS DE LOS MUELLES (SZENEN AM KAI, 1970) von Oscar Valdés . Und genauso finden sich Spielfilme, in denen Techniken des Free Cinema
oder dokumentarische Archivaufnahmen von realen Ereignissen eingesetzt
werden. MEMORIAS DEL
SUBDESAROLLO (ERINNERUNGEN AN DIE UNTERENTWICKLUNG, 1968 ) von Tomás
Gutiérrez Alea ist hierfür das Beispiel par excellence. Noch deutlicher
findet sich diese Methode jedoch in DE
CIERTA MANERA (IN GEWISSER HINSICHT, 1974) von Sara Gómez.
Bei den Spielfilmen wäre es ein Fehler, ein Werk in die Kategorie »historischer
Film« einzuordnen, nur weil seine Handlung in der Vergangenheit spielt.
Wie in allen Künsten gibt es auch im Film Werke von aufrüttelnder Aktualität
über »alte Geschichten« genauso wie Erzählungen aus der Gegenwart mit dem
bitteren Geschmack eines versteinerten Fossils. Es gilt, die Motive zu
untersuchen, aus denen heraus ein Regisseur eine vergangene oder eine zukünftige
Zeit für seinen Film wählt.
Tarkowski etwa hat mit Andrej Rubiljow (1967) nichts anderes als eine
Parabel der sozialen Verantwortung des Künstlers geschaffen. Unter der
Zensur der sowjetischen Filmverwaltung Goskino wäre es in einem »gegenwärtigen«
Spielfilm praktisch unmöglich gewesen, dies in aufrechter Form zu thematisieren.
In einem solchen Fall dient der rückwärtsgewandete Blick dem Ziel, den
aktuellen Umständen zu entfliehen; die Freiheit der Allegorie ist jenen
Grenzen vorzuziehen, die der aktuelle politische Kontext der Analyse der
Wirklichkeit setzt.
Etwas ähnliches geschieht in dem Film LA
ÚLTIMA CENA (DAS LETZTE ABENDMAHL, 1976) von Tomás Gutiérrez Alea .
Der Film beruht auf historischen Ereignissen, geht zurück ins späte 18.
Jahrhundert: Am Vorabend des Karfreitags versammelt der Graf des Hauses
Bayona, Besitzer einer Zuckerplantage, zwölf seiner Sklaven zu einem Festbankett.
Er wäscht und küßt ihre Füße und predigt ihnen, daß die wahre Glückseligkeit
darin liegt, den Schmerz mit Resignation zu ertragen. Als sie am nächsten
Tag gegen den Aufseher rebellieren - schließlich hatte ihr Herr gesagt,
daß am Karfreitag zur Ehre Gottes nicht gearbeitet wird-, läßt der Graf
elf von ihnen enthaupten. Einer entkommt. Es scheint, daß dieser Fliehende
seitdem nicht aufgehört hat zu rennen, in einer fortgesetzten, ermüdenden
Seelenwanderung. Und alles deutet darauf hin, daß der Kubaner solange er
vor etwas davonrennt (inzwischen vor sich selbst), er es nicht geschafft
hat, jene Atavismen zu überwinden, die zur Flucht führten.
Am Ende von LA ÚLTIMA
CENA hat man sehr wenig über Geschichte gelernt, vielleicht etwas über
die oberflächlichen Aspekte der Bräuche und der Landschaft. Die Bilder
des zeitlichen Kontextes sind lediglich ein Vorwand voller Anspielungen,
beladen mit Bedeutungen, die auf die Gegenwart verweisen - auf das Risiko
hin, übersehen zu werden, wenn man nicht den Hintergrund der Geschichte
wahrnimmt. Denn die Haltung des Grafen dient als Metapher für die instinktive
Reaktion des Menschen, der seinen Status mit einem Gedankengebäude verteidigt,
dem genau er seinen Stellung verdankt. In dessen Fundamenten erkennt er
keine Vergänglichkeit an, sondern beharrt auf Stabilität um jeden Preis.
Der Bumerang der Geschichte: Die erzwungene Stabilität, die sich in Kraft
der Destabilität verwandelt.
Der Film LA BELLA DEL ALHAMBRA (DIE SCHÖNE VOM
ALHAMBRA, 1989) von Enrique Pineda Barnet erreicht ähnliche Effekte mit
einem vermeintlich »leichten« Musical. Fast das gesamte vorangehende Werk
von Pineda Barnet war geprägt von politischer Huldigung. LA BELLA DEL ALHAMBRA
nun schlug alle Kassenrekorde in der kubanischen Filmgeschichte. Wieviele
Labyrinthe gibt es in dem Satz von Adolph Zucker, daß »das Publikum immer
recht hat«?
Den Rahmen für LA BELLA DEL ALHAMBRA gibt das kubanische Heimattheater
Anfang dieses Jahrhunderts ab, sein unmittelbares Umfeld ist vielleicht
der eigentliche Protagonist des Films. Nach dem Triumph der Revolution
1959 wurden zunehmend Propaganda-Kampagnen zum »Leitmotiv« der Massenmedien,
die die Vergangenheit mitsamt all ihrer kulturellen Sedimente schmähten.
Es wurde zur Gewohnheit, den »Bufo«, den Possenreißer des Heimattheaters,
als eine Art Bühnen-Komplizen der politischen Korruption zu sehen.
Eine solche Einseitigkeit der Kritik, auch wenn sie teilweise auf richtigen Grundlagen basiert, war Ursache für eine Entfremdung der kollektiven Erinnerung, die großen Lücken in die Kenntnis der kubanischen Kunstgeschichte riß, einem nicht zu leugnendem Ausdruck kubanischer Nationalität. LA BELLA DEL ALHAMBRA zeigt, daß das Heimattheater, inmitten all seiner Heuchelei und seiner Mimikry, immer auch den (typisch kubanischen Humor des) »Choteo« und noch einige Dinge mehr beinhaltet, die unzweifelhaft Teil des kubanischen Nationalcharakters sind. Indem er einen bedeutsamen Teil des zuvor verhüllten historischen Kontexts ins Rampenlicht stellt, füllte LA BELLA DEL ALHAMBRA einen Raum aus, den eine von der Poltik durchgesetzte reduzierte und zwanghafte
Betrachtung leergelassen hatte.
Eine mehr oder weniger ähnliche Zielsetzung der Entmytsifizierung und Reaktualisierung kennzeichneten Filme wie CLANDISTINOS (DIE GEHEIMEN, 1987) und HELLO HEMINGWAY
(1990) von Fernando Pérez sowie AMADA (GELIEBTE, 1983) und UN HOMBRE DE
ÉXITO (EIN MANN MIT ERFOLG), 1987 von Humberto Solás . Die ersten stellen
die zwei Seiten der gleichen, von der Götterung der Helden abgenutzten
Medaille dar - einer Vergötterung, die sie in unnahbare und »esoterische«
Wesen verwandelt hat, in Bewohner eines Olymps, in dem sich die prophetischen
Gesänge Homers mit den blind machenden Elegien des sozialistischen Realismus
verbinden. Auch wenn der Regisseur am Ende von CLANDISTINOS nicht der Versuchung
widerstehen konnte, das Verhalten der Protagonisten zu überhöhen - nicht
so sehr durch die Dramaturgie, als vielmehr durch Ton- und Schnitteffekte
- , so zeigt dieser Spielfilm doch einen städtischen Aufstand aus Fleisch
und Blut, greifbarer und sehr viel eindringlicher als viele kubanischen
Geschichtstexte, die von der Jugend niemals wirklich in ihren »Stoffwechsel«
aufgenommen werden.
Auf der anderen Seite hinterfragt HELLO HEMINGWAY auf subtile Weise
das traditionelle Heldenkonzept der Propaganda, indem es die Geschichte
eines ganz gewöhnlichen Lebens erzählt, die Geschichte einer jungen Frau,
die den Wunsch hat, »jemand zu sein im Leben«. Doch ihre Träume zerbrechen
eins ums andere Mal an Hindernissen aller Art die ihren Charakter mäßigen,
aber sie nicht vor dem Elend retten.
AMADA ist ein halb verschwommenes Porträt einer der unerwünschtesten
Einwanderer, die mit der spanischen Herrschaft nach Kuba kammen: der Intoleranz.
Sie ist verschwägert und verschwistert mit der Heuchelei, die ans Tageslicht
kommt in dieser Liebesgeschichte, die den historischen Kontext in einem
künstlichen Bühnenraum entdeckt.
UN HOMBRE DE ÉXITO stellt ein aktuelles Thema mit seinen naheliegendsten
Wurzeln dar: Der Opportunismus, die Fähigkeit zur Anpassung, die den Menschen
biologisch gerettet hat und ihn sozial zum Selbstmord an seiner Individualität
zwingt, wird in dem permanenten Zickzacklauf und den politischen Wandlungen
eines Wohlhabenden vor 1959 gezeigt.
In allen bislang betrachteten
Filmen ist die historische Rekonstruktion als Quelle der Erinnerung oder
Suche nach einem realistischen, von Verzerrungen befreiten Abbild kein
vordringliches Ziel. Es geht nicht darum, allgemeine Kenntnisse zu erweitern,
sondern vielmehr darum, sie zu verändern. Belegt dafür ist auch, daß in
der Mehrzahl der Filme - selbst wenn sie sich auf sehr konkrete Begebenheiten
beziehen - die wichtigsten Protagonisten keine berühmten Namen tragen und
sich die Ereignisse nicht in bekannten Orten und Situationen abspielen.
In diesen auf den ersten Blick paradox erscheinenden Ungenauigkeiten findet
der Filmemacher die Erlaubnis, mit entmystifizierenden Abstraktionen zu
spielen, deren Triebkräfte aus einer kritischen Untersuchung der gegenwärtigen
Verhältnisse stammen. Das Wirkliche liegt damit nicht in der »Wirklichkeit«,
dem Kontext der filmischen Handlung, sondern in dem darunterliegenden »Subtext«.
Schritt für Schritt nähern wir uns so der Gewißheit, daß solche Filme -
unabhängig von ihrem dramatischen Aufbau dem Essay näher stehen als der
Erzählung.
Dieser Geist des Essays, der den Helden (oder seinen Ersatz) menschlich werden läßt, glänzt in den Spielfilmen MELLA (1975) von Enrique Pineda und BARAGUÁ (1986) von José Massip durch Abwesenheit. Beide sind von einer weniger orthodoxen als vielmehr sterilen Didaktik getränkt und lassen in ihren Defekten bestimmten Syntome der Gegenwart mit erschreckender Deutlichkeit durchscheinen. Beide zeigen weniger das Bild eines Helden als vielmehr jenes Heldenbild, das man propagieren will und in dem sich vor allem die herrschende ideologische Prägung und ihre Sehnsucht nach epischer Größe widerspieglen. Die von Pineda Barnet und Massip vorgeschlagenen Helden-Modelle sind nichts anderes als Fetische, die durch den Tod vor der absoluten Übermenschlichkeit gerettet werden. Auch wenn die Ideologie, in deren Schoß derartige Archetypen keimen, den philosophischen Idealismus zugunsten eines uneingeschränkten Materialismus verneint, so ist doch das Instrument ihres Bekehrungseifers - der Mensch - unfähig, sich jenem uralten Impuls völlig zu entziehen, das woran man glaubt, zu einem Gott zu erheben. Dies erklärt die Vergötterung der Helden im sozialistischen Realismus, dem wohl einzigen bekannten Experiment, eine idealistische Religion (die Redundanz sei verziehen) durch eine materialistische Religion zu ersetzen, der zufolge die Menschen sterben und danach nirgendwohin kommen, sondern auf Erden Götter sind, solange sie unermüdlich »für eine gerechte Sache« kämpfen. Der Umgang mit der Biografie der Helden ist dabei notwendig reduktionistisch; der Mensch wird auf seinen Mut und seine bedingungslose Prinzipientreue reduziert. Die daraus resultierende Abstraktion läßt sich wie ein Katechismus anweden, allerdings einer ohne Fragen: Es gibt nur Antworten. Vielleicht sind genau Elegien wie MELLA oder BARAGUÁ ihrem Wesen nach so sehr Anti-Filmkunst. Zu keinem Zeitpunkt befragen sie den Betrachter, anstatt ihn aufzufordern, zu kauen, um dann zu schlucken, verlangen sie von ihm, zu schlucken, ohne zu kauen.
Es
gibt auch historische Filme, die aus dem Wunsch nach Aufkärung, aus kritischem
Geist entstanden sind. Das hervorragendste Beispiel ist EL HOMBRE DE MAISINICÚ
(DER MANN VON MAISINICÚ, 1973) von Manuel Pérez Paredes . Nach dem Erfolg
dieses Filmes hat der Regisseur in zwei weiteren Werken - RÍO NEGRO (1979)
und LA SEGUNDA HORA DE ESTEBAN ZAYAS (DIE ZWEITE STUNDE DES ESTEBEN ZAYAS,
1984) - versucht, dieses Rezept zu wiederholen, doch das Ergebnis war nicht
das gleiche. Auch wenn sie bis zu einem gewissen Grad menschlich waren,
gingen die antagonistischen Pole letztlich doch nicht über die Charakterisierung
eines Kampfes zwischen Guten und Bösen hinaus. Das gleiche passiert in
PATTY CANDELA (1976) von Rogelio París. EL HOMBRE DE MAISINICÚ hatte Varianten
des Kampfes gegen die Konterrevolution mehr impliziert als explizit behandelt
und sie auf einer Ebene der Anspielung belassen, die in gewissen Maße die
reflektierende Teilnahme des Betrachters verlangte. Jene Epigonen jedoch
verwandten allzuviel Energie darauf, die Kräfte des Sieges über den Feind
hervorzuheben, mit einem Inventar an Entscheidungen und Aktionen, hinter
denen die Charakter der sie auszuführenden Personen kaum noch erkennbar
war. Die Ergebnisse ähnelten mehr Thrillern für den Fernseher als Filmen
für die Kinoleinwand.
Dabei war der gezeigte Kontext nicht falsch: Die Effizienz der Verteidigung
gegen Infiltrationen aus den USA, der sogenannte »Kampf gegen Banditen«,
die Abwehr von Sabotage und Attentatsversuchen auf Kubas poltische Führung,
all dies war ohne Zweifel die Frucht eines gut funktionierenden Sichherheitssystem,
dessen Netze die gesamte Gesellschaft durchdrangen. Dennoch blieben die
Filme in einer neuen Form des Sensationalismus befangen, die der Anonymität
Ehre erweisen will, sie in den Protagonisten verwandelt und bis zum Paroxysmus
überhöht. Der individuelle Konflikt ist allenfalls eine Absicht, die vor
der »geheiligten Pflicht, das Vaterland zu verteidigen« auf die Knie geht.
Er macht einem sozialen Konflikt Platz, dessen Legimität nicht vom Individuum
abhängt. Doch der soziale Konflikt wird immer abstrakte Spiegelfechterei
bleiben, solange ihm nicht im inneren Konflikt des Individuums nachgegangen
wird. Filme wie diese sind letzlich Propagandainstrumente; diese Funktion
erfüllt das Kino besser, wenn es sich nicht als Kunst verkleidet.
In seinem ersten Spielfilm POLVO ROJO (ROTER
STAUB, 1981) sucht Jesús Díaz den Konflikt zwischen dem Menschen und den
ihn umgebenden Verhältnissen nach dem Sieg der Revolution 1959. In einer
großen Nickelfabrik soll die Produktion wieder aufgenommen werden, nachdem
die Eigentümer und alle Techniker bis auf einen das Land verlassen haben.
Auch wenn Díaz dabei den »Geist der Erneuerung« jener, die die Fabrik nationalisiert
haben, in höchsten Tönen preist, so verweist POLVO ROJO LEJANÍA (FERNE, 1985) handelt. Die
Personen in POLVO ROJO haben eine Glauben an die Revoltution, der sich
aus dem Glauben an selbst speist. Dieser jedoch ist relativ. Dann er hängt
nicht nur von dem Enthusiasmus als einer nach außen dargestellten Haltung
ab, sondern vom Inhalt des Denkens selbst.
Einen anderen Zugang zu diesen sozialen
Ereignissen bietet LOS SOBREVIENTOS
(DIE ÜBERLEBENDEN, 1978) von Tomás Gutiérrez Alea. Überzeugt, daß der
gesellschaftliche Aufruhr nur vorübergehend ist und bald alles wieder zur
Normalität zurückkehren wird, verschanzt sich eine Familie der kubanischen
Bourgeosie in ihrer riesigen Villa, um sich nicht von »den erniedrigenden
Einflüsssen der Revolution« anstecken zu lassen. Doch Schritt für Schritt
zwingt sie ihre Eingeschlossenheit selbst zur Erniedrigung, gehen sie einer
Art negativer Evolution Stufe für Stufe die Marx'schen Entwicklungsstadien
der Menschheit zurück, um schließlich in der Barbarei zu enden.
In diesem Film, wie praktisch in dem gesamten Werk von Tomás Gutiérrez
Alea (und auch in seinem neuen Spielfilm nach der Erzählung »Der Wolf,
der Wald und der neue Mensch« von Senel Paz, an dem er Zeit arbeitet),
liegt die Betonung auf der Haltung des Individuums - oder eine Gruppe von
Individuen -inmitten des sich wandelnden und unbegreiflichen Kontextes.
Entscheidend ist die Frage nach den Reaktionen des Menschen gegnüber Ereignissen,
die versuchen, ihn mit dem Strom mitzureißen. Der Grundkonflikt von LOS
SOBREVIVIENTES ist eine Summe von individuellen Konflikten, beherrscht
von einem höheren, unauflösbaren: Abgeschnitten von der Außenwelt, will
ein jeder auf seine Weise überleben, so sind sie immer weniger fähig, miteinander
übereinzukommen. Der Einsatz von Gewalt läßt nicht auf sich warten und
führt zu einem klaustophobischen Rettungskampf. Er erlaubt denen, die die
Gewalt anweden, die ursprüngliche Idee der »reinigen Abgeschlossenheit«
aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig jedoch ist es diese irrationale Gewalt,
die auch die entgegengesetzte Alternative - Hinaus, ganz gleich wie groß
die Gefahren dort sein mögen - zum einzigen, zum notwendigen Horizont macht.
Der Film ist letztlich eine Parabel über die Irrwege des Menschen, über
die Gefahren, die es mit sich bringt, sich einer fixen Idee, so nobel sie
auch sein oder scheinen mag, bedingungslos und irreversibel unterzuordnen.
Gutiérrez Alea schafft eine Galerie von Charakteren, die mühelos in
der Gesellschaft wiedererkannt werden können: der Wohlhabende, dessen fundamentales
Interesse darin besteht, seinen Lebensstil um jeden Preis zu behalten;
der Intellektuelle, der sich des Ganzen bewußt ist, aber nicht dazu bereit,
sich für den Versuch der Veränderung zu opfern; der clevere Politiker,
der das Chaos ausnutzt, um die Macht zu ergreifen und der danach die Berechtigung
seines Aufstiegs in die einzig denkbare Grundlage für die »Endlösung« der
Gemeinschaft verwandelt; die Bediensteten, die sich angesichts der drohenden
Gefahr mit irgendeiner kleinen Beute davon machen; der opportunistische
Spekulant; die Hofschranze, die die Ereignissen anstandsgemäß für die Geschichte
festhält...
Die Palette der kubanischen Spielfilme, die in
der Gegenwart spielen, reicht von wahren Porträtaufnahmen von der Gesellschaft
wie ALICIA EN EL
PUEBLO DE MARAVILLAS bis hin zu frivolen Entfremdungen im Stile von
VENIR AL MUNDO (AUF DIE WELT KOMMEN, 1989) von Miguel Torres.
RETRATO DE TERESA (TERESAS PORTRÄT, 1979) von Pastor Vega hat eine leidenschaftliche
Debatte über die Rolle der Frau in der Gesellschaft ausgelöst, die von
fast allen Medien des Landes aufgenommen wurde. Es ist die Geschichte eines
Ehepaars, in dem der Mann die Vorstellung nicht aktzeptiert, daß seine
Frau außer Hauße arbeiten geht. Mit ihrer zunehmenden sozialen Aktivität
verschärft sich der Streit und führt am Ende zur Trennung. Wenig später
sucht der Mann die Versöhnung, doch es ist schon zu spät: Teresa hat sich
emanzipiert.
Auch wenn das Thema uralte Wurzeln hat, hat Pastor Vega es doch überaus
glaubhaft im Kontext der Gegenwart entwickelt. In den 15 Jahren zuvor war
der gesellschaftliche Rahmen durch die Forderungen der Frauen nach sozialer
Gleichheit zunehmend aufgerüttelt worden. Und es waren die Jahre zwischen
1978 und 1981, als Kuba - für kurze Zeit - die Luft einer relativen wirtschaftlichen
Stabilität unter der Vormundschaft der UdSSR zu atmen begann, so daß sich
die sozio-ökonomischen Bedingungen dafür gegeben waren, daß ein Werk wie
dieses zu einer lautstarken öffentlichen Debatte - insbesondere von Seiten
der Frauen - führen konnte. Der überholte Machismo wurde von den unterschiedlichen
Positionen her bombadiert, wobei auch extreme Sichtweisen nicht fehlten.
Jene offene und transparente Diskusssion hinterließ bei vielen ein Gefühl
des Beteiligtseins, wie es von einer Propaganda, die den Willen nach sozialem
Fortschritt mit einer vermeintlichen Notwendigkeit verwechselte, die Dinge
nicht beim Namen zu nennen, kaum erreicht wurde. RETRATO DE TERESA kann so vielleicht als Beispiel dafür dienen, was auch in
anderen Lebensbereichen möglich gewesen wäre durch eine Haltung, die jene,
die den Beginn der revolutionären Umwälzungen im Land gekennzeichnet hatte,
konsequent fortentwickelt hätte.
Da vom Machismus die Rede ist: Mir ist kein Film
bekannt, der so sehr seinen Titel verdient wie HASTA
CIERTO PUNTO (BIS ZU EINEM GEWISSEN PUNKT, 1983) von Tomás Gutiérrez
Alea. Er ist unter anderem von einem baskischen Lied inspiriert, in dem
es heißt: »Wenn ich wollte, könnte ich ihm die Flügel schneiden, und dann
wäre er mein; aber das was ich lieb, ist der Vogel«. Der Film erforscht
die Vorurteile, die die machistische Praxis innerhalb einer Paarbeziehung
prägen. Und er versucht, eine Bresche dafür zu schlagen, im Rahmen der
Gesellschaft andere Verhaltsweisen, eine alternative Haltung anzuerkennen.
Doch HASTA CIERTO PUNTO
geht nicht über den Impuls hinaus, die Annäherung an das Problem reicht
eben nur »bis zu einem bestimmten Punkt«, der Versuch bleibt genau das:
ein Versuch. Ergebnis ist der Vorgang des untersuchenden Interesses gegenüber
dem Erzählerischen, und das ist eine der möglichen Folgen einer Überdosis
des Essayistischen in der Dramaturgie. Der Regisseur kann den Film mit
den Worten besser erklären, als es das Werk selbst tut: »Der Film handelt«,
so Alea, »von dem Widerspruch einer Liebesbeziehung, bei der es nötig ist,
daß eine Person die andere besitzt; und bei der es gleichzeitig nötig ist,
daß die Personen das bleiben, was sie sind. Mir scheint, daß das Gleichgewicht
zwischen diesen beiden Tendenzen der Schüssel für eine Liebesbeziehung
ist. Wenn man wirklich eine Person liebt, dann liebt man sie für das, was
sie ist, nicht für das, was man sie zu sein zwingt. Dies ist das genaue
Gegenteil einer machistischen Beziehungen; es ist eine Beziehung, die sich
gerade aus einer Situation der Freiheit ergibt, nicht aus einer der Unterwerfung,
aus einer Situation von zwei Personen auf der gleichen Ebene.«
Juan Carlos Tabío produzierte Dokumentar-
und Kurzfilme und debütierte in den 80er Jahren als Regisseur von abendfüllenden
Spielfilmen. Der erste SE
PERMUTTA (WOHNUNG ZU TAUSCHEN, 1983), eine Komödie über die inneren Beklemmungen
einer Frau, die sich eine neue und größere Wohnung ertauschen will, als
ob ihr dieser Tausch ein Leben in einem ganz neuen Rahmen ermöglichen würde.
Sie will den von ihr als frustierend erlebten Umständen entfliehen, das
zwingt sie dazu, alle ihre Kräfte für ein Ziel einzusetzen, dessen Zerbrechlichkeit
das Ende des Films unterstreicht. In SE PERMUTA geht es darum, wie sich
die Energien des Menschen im einem Teufelskreis verschleißen können, der
vom Fehlen großer Ziele im Leben genährt wird.
Diejenigen, die zwischen diesem und dem zweiten
Spielfilm von Tabío PLAF, O DEMAISIADO MIEDO A LA VIDA (PLAF, ODER ZUVIEL
ANGST VOR DEM LEBEN , 1988) keinen gemeinsamen Nenner erkennen konnten,
übersehen die Haltung ihrer Protagonisten, in der sich auch die psychischen
Folgen erkennen lassen, die der Einfluß des gesellschaftlicheen Kontextes
hat: Beklemmung und Angst In SE PERMUTA kanalisiert die Protagonistin diese
durch einen beständigen »unnützen Fleiß« - was wie Alejo Carpentier einmal
sagte, nichts anders als eine eigentümliche Variante der Faulheit ist.
In PLAF ... wird diese Angst krankhaft und letzlich zur Paranoia. Die
Hauptperson ist eine von Vorurteilen und Frustationenen besessene Frau,
auf deren Haus »jemand« immer wieder Eier wirft. (Der Titel »Plaf« ist
die lautmalerische Widergabe des Aufpralls der Eier auf der Hauswand).
In Kuba ist dies nicht nur eine Geste des Mißfallens, sondern wird auch
mit einer Praxis der Hexerei in Verbindung gebracht. Derzufolge kann eine
Person einer anderen Schaden zufügen, indem er sie »bearbeitete« - das
heißt: mit »bösen Geistern« infizierte - Eier auf sie wirft. Die Angst
der Frau nimmt mit jeder neuen Agression zu, bis sie schließlich vor Angst
stirbt. Am Ende stellt sich heraus, daß es der Sohn, die Schwiegertochter,
Freunde und Nachbarn waren, die ihr aus den unterschiedlichsten Gründen
nur ein wenig Angst einjagen wollten. Aber sie erreichen, in ihr die »Angst
vor dem Leben« zu reizen. Der Film enthüllt dieses Leben als besorgniserregende
Bedrohung, doch leider verzettelt er sich darin mit einem untergründigen
Raster propagandistischer Kritik. Nichtsdestotrotz sind hier der gesellschaftliche
Kontext der Gegenwart und die individuelle Haltung der Personen klar wie
selten im kubanischen Film als dialektische Beziehung ausgedrückt. Sie
erlaubt es der Kamera, die beiden natürlichen Ebenen des Realismus, die
phychische Realität und das Individuum, in ihrer Wechselbeziehung zu ergründen.
Zwei
Spielfilme, LEJANÍA (FERNE,1985) von Jesús Día z und
LAURA (1990) von Ana Rodríguez - ein Kurzfilm, der als eine von fünf Episoden Teil des Films
MUJER TRANSPARENTE (DURCHSICHTIGE FRAU , 1990) ist - haben sich mit dem
Thema der kubanischen Emigration in die USA aus den Blickwinkeln von Familien
und Freunden beschäftigt. LEJANÍA handelt von einer in Miami lebenden Kubanerin,
die nach Kuba reist, um ihren Sohn wiederzusehen, den sie verlassen hatte,
als er noch ein Teeager war. Beide stellen fest, daß sie schon nicht mehr
genug gemeinsam haben. Laura ist die Chronik einer Begegnung der Protagonistin
mit ihrer Vergangenheit, die verkörpert wird von einer überraschend auf
Besuch gekommenen Freundin aus der »Communidad« (wie in Kuba die Gemeinschaft
der in die USA emigrierten Kubaner genannt wird).
Die Haltung, die einen Film wie LEJANÍA erzeugt, ist eine Mischung
aus politischer Verpflichtung und der »Participación militant«, dem aktiven
Engagement, von dem eingangs die Rede war. Nach dem hier zugrundeliegenden
Verständnis verlangt die »Participación militante« vom Filmemacher, dem
ursprünglichen Projekt (der Revolution; präziser jenem revolutionären,
kritischen Impuls, der am Anfang stand) treu zu sein. Die politische Verpflichtung
hingegen fordert von ihm ein parteiisches Verhalten im Sinne der verlangten
Disziplin, den Weisungen der Partei Gefolgschaft zu leisten. Da diese jedoch
politisch bestimmt werden und sich folglich an dem orientieren, was unter
den jeweiligen Umständen zweckmäßig ist, so ist ist es wahrscheinlich,
daß die Anforderungen des Zweckmäßigen nicht unbedingt mit denen der »Participación
militante« übereinstimmen. Die einzige nicht gewaltsame Form, diesen Widerspruch
aufzulösen, besteht darin, zwischen beiden Momenten einen Kompromiß auszuhandeln.
Diese Übereinkunft zeigt sich in LEJANÍA in der Form, wie das Problem dargestellt
wird und eine orthodoxe Lösung findet: Der Sohn weist die Ansprüche seiner
Mutter zurück, indem er davongeht, um eine revolutionäre Aufgabe zu erfüllen.
Wer sich die jüngsten
Äußerungen von Jesús Díaz (in ihrer kritischen Absicht verleichbar mit
denen des Schriftstellers Lisandro Otero) nicht erklären kann, der kann
die Antwort - sprich: die Ursache - in der zunehmenden Intoleranz der Partei
finden, die die politische Verpflichtung des Filmemachers so weit aushölt,
bis alle Impulse seines Drangs nach Partizipation losgetreten werden. In
der Folge verbleibt die »gewaltsame« Lösung als einzig mögliche Option
für denjenigen, der sein Engagement - und etwas sehr wichtiges. seine Persönlichkeit
- nicht unter dem Druck der Politik verschwinden lassen will. PAPELES SECUNDARIOS
(NEBENROLLEN , 1989) von Orlando Rojas und ADORABLES MENTIRAS (VEREHRENSWERTE
LÜGEN, 1991) von Gerardo Chijona betrachten Varianten des gleichen Konflikts
unter anderen Blickwinkeln. Der Monolog der Protagonistin von PAPELES SECUNDARIOS
ist ein Stoßgebet für Toleranz und menschliches Verstehen, für Güte und
Vernunft, das überflutet wird von einer gellenden Bitterkeit, die sich
der Enttäuschung beugt. Mehr als einmal hörte ich, daß das Bild von der
»Realität«, das dieser Film zeigt, wegen seiner ausgefeilten Fotografie
nicht authentisch sei - als ob Kubanisches unvereinbar wäre mit ausgefeilter
Arbeit! -, und weil seine Figuren (Schauspieler, Direktoren, Bühnenbildner
etc. eines Theaters) untypisch wären, Bewohner eines unüblichen gesellschaftlichen
Kontextes. Solche Kommentare lassen sich als Ruf nach Bildern von Männern
mit Macheten vor Palmen oder von Rumba tanzenden Mulattinen bei einem Karnevalsspektakel
verstehen. An dieser Stelle möchte ich eine Überlegung von Jorge Luis Borges
zu Hilfe nehmen, der schrieb: »Das wirklich Einheimische kann - und tut
dies gewöhnlich auch - ohne Lokalkolorit auskommen.« Einen interessanten
Beleg hierfür habe ich Gibbons »Rise and Fall of the Roman Empire« gefunden.
Darin bemerkt Gibbon, daß in dem arabischen Buch par excellence, dem Koran,
keine Kamele vorkommen.
Ich denke, wenn es irgendein Zweifel an der Authentizität des Korans
gäbe: Das Fehlen von Kamelen würde gegnügen, um zu beweisen, daß er wirklich
arabisch ist. Er wurde von Mohammed geschrieben, und der Araber Mohammed
hatte keinen Anlaß zu denken, daß Kamele besonders arabisch wären; sie
waren einfach Teil der Wirklichkeit. Ein Fälscher, ein Tourist oder ein
arabischer Nationalist hingegen hätte als allererstes Kamele auf jede Seite
geschrieben, ganz Karawanen von Kamelen. Aber Mohammed, der Araber, wußte,
daß man auch ohne Kamele Araber sein kann.
Der Konflikt der Hauptperson in PAPELES SECUNDARIOS ist weniger der
einer frustierten Schauspielerin als vielmehr der Konflikt eines von Mißtrauen
verfolgten Menschen - einem gängigen Phänomen dort, wo der beständige Verdacht
eines »kollektiven Spions« die individuelle Paranoia gebiert. Weder ihr
noch dem Theater, in dem sie arbeitet, fehlen Palmen, um Teil der »Realität«
zu werden: Sie sind es, ob man es sehen will oder nicht. Bei dem Film ADORABLES
MENTIRAS (VEREHRENSWERTE LÜGEN) sagt der Titel schon genug: Die Personen
bewegen sich in einem Raum., in dem die Heuchelei und der Betrug nicht
der Widersinn oder die Ausnahme sind, sondern systematisch erzwungen werden.
Diese Notwendigkeit der Lüge, um die Anerkennung der anderen zu erhalten,
findet sich in den Hauptpersonen von LAURA, PAPELES SECUNDARIOS und ALICIA
EN EL PUEBLO DE MARAVILLAS. Sie ist aber auch präsent in dem Macho
aus RETRATO DE TERESA, die, nur weil sie im häuslichen Rahmen spielt, deswegen gesellschaftlich nicht weniger bösartig ist.
Der Film ALICIA EN EL PUEBLO DE MARAVILLAS wurde in Kuba zum »Fall«. Die Geschehnisse während der wenigen Tage, die der Film im Kino gezeigt wurde, sowie die schmähenden Kritiken der Medien (von jenen, die die »Erlaubnis« dazu hatten), erinnert mich an eine Anekdote, die Buñuel in »Mi último suspiro« (Mein letzter Seufzer) erzählt.
Dabei geht es um eine Nachricht, die die anarchistische Zeitschrift
»El Motín« in den 20er Jahren über eine Demonstration in Madrid schrieb,
bei der Arbeiter gewaltsam mehrere Priester angriffen, dabei Passanten
verletzten und Schaufensterscheiben zerschlugen. Die Nachricht begann folgendermaßen:
»Gestern nachmittag ging eine Gruppe von Arbeitern ruhig die Straße Montera
hinauf, als ihnen auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig zwei Priester
entgegenkamen. Angesichts dieser Provokation...« Alicia, eine junge Theaterberaterin,
entschließt sich, den zweijährigen sozialen Dienst nach ihrer Ausbildung
in dem abgelegenen Dorf Maravillas zu erfüllen. In Marvillas stellt sie
dann fest, daß sie die einzige ist, die freiwillig dort lebt. Alle anderen
Bewohner des Ortes sind »Tronados«, wegen Verfehlungen aus ihren Ämtern
entlassene Personen, die in dieser Hölle ihre Schüld sühnen sollen. Die
höchste Autorität von Maravillas ist der Direktor eines Sanatoriums, in
dem »Sprudelwasser« hergestellt wird, mit dem die Neuankömmlinge gefügig
gemacht werden. Weil sie sich weigert, den Formalismus, den Oprortunismus
und die herrschende Heuchelei anzuerkennen, beginnt Alicia, alles zu kritisieren.
Daraufhin wird sie im Sanatorium eingesperrt. Mit der Hilfe von Kindern
befreit ein Freund sie und ermöglicht ihr am nächsten Tag die Flucht aus
Maravillas. Als sie danach in einem nahegelegenen Ort im Busbahnhof sitzt,
bringt ihr eine Serviererin eben jenes »Sprudelwasser« ...
Entgegen der Argumentation fast aller Angriffe auf den Film, versucht
ALICIA ... nichts
zu konstruieren; der Film versucht lediglich, etwas zu zeigen. Was der
Zuschauer am Ende glaubt, ergibt sich aus den Bedeutungen, die er selbst
in dem Gesehenen erkennt. Wen beleidigt der Film, wenn er in farcenhafter
Form die Probleme der Gesellschaft offenlegt. Nur denjenigen, der meint,
daß er die Schuld an der Existenz der Probleme trägt und der durch ihre
Offenlegung seine Macht gebrochen sieht, sie dem Urteil der Öffentlichkeit
zu entziehen. Diejenigen, die den Film so vehement als »konterrevolutionär«
abstempelten, haben damit im Grunde nur ihre Gleichgültigkeit gegenüber
diesen Phänomen oder ihre direkte Verantwortung für ihre Ursachen zu erkennen
gegeben. Um diese Apathie oder das entsprechende Schuldgefühl zu verhüllen,
haben sie ALICIA
... das hilfreiche Etikett »konterrevolutionär« angeheftet - ein Argument
der Anklage von erprobter politischer Effektivität, jeoch nicht von künstlerischer.
Wenn gesagt wird, der Film sei schädlich, weil er sich im Negativen festsetzt,
dann bekräftigt dies automatisch die Existenz des Negativen. Gewöhnlich
wird dieser Einwand begleitet von dem Ratschlag, das Werk durch mehr positive
Elemente ausgeglichener zu gestalten. Im Klartext: Man empfiehlt der Filmproduktion,
die gleichen Manöver zu verweden wie sie offenkundig die Propaganda benutzt,
um die Realität hinter einer Maske zu verstecken - als ob die Maske selbst
schon eine Lösung der Probleme wäre und nicht eine betrügerische Operation,
um sie verborgen zu halten. Gerade indem er sich auf dieses Negative konzentriert,
es lächerlich macht und zur Parabel erhebt, schafft der Film im Betrachter
die notwendige Distanz, um sich am Ende weder mit ohnmächtigem Lamentieren
noch mit sterilem Lachen zu bescheiden, sondern vielmehr bewußt zu reagieren.
ALICIA ... hinterläßt im Betrachter vor allem eine herausfordernde
Anklage. Ein Forderung nach einem Engagement, das die kritische Haltung
wiederbelebt gegen den Konformismus gegenüber Apathie und Trägheit. (Vielleicht
erklärt dies, warum ein bestimmter Teil des Publikums mit wütenden Beschimpfungen
auf den Film reagierte: Exorzismus statt Auseinandersetzung.) Auch wenn
ALICIA EN EL PUEBLO
DE MARAVILLAS in keinster Weise dem sozialistischen Realismus verbunden
ist, so war dieser Bezug jedoch in den Verisssen über ihn nicht zu übersehen.
Jede Person oder Personengruppe wurde als Abbild all seiner Entsprechungen
in der kubanischen Gesellschaft interpretiert: die Pioniere des Films als
die kubanischen Pioniere, der Direktor des Sanatoriums als die kubanische
Staatsführung undsoweiter. (Apropos: Es ist mir nicht bekannt: daß die
Kirche auch nur ein einziges Mal gegen die Darstellung des kauzigen Priesters
protestiert hätte, offensichtlich hat sie in ihm nicht alle kubanischen
Priester wiedererkannt.) Die pseudokritischen Schmähungen lassen sich zusammenfassen
in dem verzweifelten Ruf nach dem sozialistischen Helden: untadelig, mutig,
fleißig, diszipliniert; glücklich »in einer besseren Welt« zu leben und
an der »Erschaffung des Neuen Menschen« mitzuwirken. Eine solche Übung
der Schematisierung ist jedoch nicht nur das Gegenteil von Filmkunst, sie
ist schizophren. Indem ALICIA
EN EL PUEBLO DE MARAVILLAS das Absurde ausreizt, ist der Film ein weiteres
Stoßgebet an die Vernunft und gegen Entfremdung.
Die sogenannte »Período Especial« (Sonderperiode) zwingt die Kubaner
zu mehr Sparsamkeit und Strenge als je zuvor, und das Filmwesen befindet
sich natürlich in der gleichen Situation. Wenn die Eskalation der Intoleranz
fortgesetzt wird, mit der die Politik versucht, die intellektuellen Strömung
im Land unter Verschluß zu halten, kann dies dramatische Folgen haben.
Deren erste Syntome sind die Angriffe und Anschuldigungen gegen Personen,
deren beständige revoltuionäre Militanz beispielhaft ist und die dazu gezwungen
werden, für Diskussionen der nationalen Probleme internationale Tribünen
zu suchen.
Nur jene Haltung, die das Entstehen und die Herausbildung der kubanischen Filmbewegung ermöglich hat, kann ihr den Weg in die Zukunft weisen. Dazu bedarf es eines gesellschaftlichen Rahmens, der den schöpferischen Reichtum der Filmemacher, Künstler und Intellektuellen annimmt und umsetzt. Nicht zu akzeptieren ist eine Situation, in der der Kulturschaffende sich durch die Imperative der Politik zur Parodie jenens denkwürdigen Satzes gezwungen sieht, der Samuel Goldwyn zugeschrieben wird: »Heute morgen bin ich mit einer genialen Idee aufgewacht. Aber sie hat mir nicht gefallen ... (weil sie nicht opportun ist).«
José Antonio Evora
José Antonio Evora ist Redakteuer der kubanischen Filmzeitschrift Cine
Cubano in Havanna. Der vorliegende Text basiert auf einem längeren Aufsatz,
der für eine Publikation des kubanischen Filminstitus ICAIC geplant war,
jedoch unveröfffentlich bliebt.
Übersetzung und Bearbeitung: Bert Hoffmann
In: Film und Fernsehen Nr.6/1992 - Nr.1/1993, S.113-122
Last update: 18.1.2016